Für
die Prüderen unter den Amerikanern handelte es sich schlicht um Pornografie.
Und es waren in der Tat ziemlich hübsche Frauen, die da in Großaufnahme
demonstrierten, wie sich eine Frau ihre Brust abtasten sollte. Diese so genannte
Selbstuntersuchung hatte die Amerikanische Krebsgesellschaft Anfang der fünfziger
Jahre zur wichtigsten Waffe gegen den Brustkrebs gekürt. Eine Schwemme
von Broschüren, Büchern und sogar ein Film erklärten der weiblichen
Hälfte der Nation, warum es lebenswichtig sei, dass alle Frauen ab 20
sich einmal pro Monat systematisch die Brüste nach Knoten abtasteten.
Außer bei den Zeitgenossen, die sich an den öffentlichen Bildern
der Nackten stießen, gab es wenig Zweifel am Sinn der Kampagne. Die
Empfehlung wurde zum Allgemeingut und gehörte bald auch in Deutschland
zu den guten Ratschlägen gegen den Krebs.
Doch
mit den monatlichen Fingerübungen geht es jetzt zu Ende. Im Mai hat sich
die Amerikanische Krebsgesellschaft offiziell von ihrer alten Empfehlung der
regelmäßigen Selbstuntersuchung distanziert. Es fehle der Beweis,
dass die Technik die Zahl der Brustkrebstoten verringere.
Die
Abkehr von der Tastuntersuchung symbolisiert einen fundamentalen Wechsel im
Umgang mit der Krebsfrüherkennung. Bislang galt das Prinzip Hoffnung:
Jeder, der eine aussichtsreiche Methode propagierte, den Krebs noch früher
aufzuspüren, konnte sich der Sympathie Ð und Kundschaft Ð sicher sein.
Doch langsam dringen auch die Grenzen der Verfahren ins Bewusstsein. Plötzlich
wird offen darüber diskutiert, dass allzu eifrige Kontrolle sogar mehr
schaden als nützen kann. An der seit 1971 praktizierten Früherkennung
von Darm-, Prostata-, Brust-, Haut- und Gebärmutterhalskrebs lässt
sich demonstrieren, dass Nichtstun eine ernst zu nehmende Alternative ist.
Früherkennung
ist im Kern ein Tauschgeschäft: Man tauscht ein Risiko gegen ein Bündel
anderer Risiken. Von 1000 Teilnehmern können bestenfalls einige wenige
erwarten, dass Früherkennung sie vor einem vorzeitigen Tod durch einen
Krebs bewahrt. Keine Frage, das ist ein sehr starkes Argument für Früherkennung.
Doch dieser Gruppe stehen etwa gleich viele Teilnehmer gegenüber, bei
denen Früherkennung die Gesundheit angreift, die sie eigentlich erhalten
soll.
Risiken
werden verschwiegen
Wer
sich auf die Früherkennung einlässt, kommt nicht darum herum, mit
Zahlen zu spielen. Die Drohkulisse, vor der sich die Diskussion um die Früherkennung
abspielt, sind 18000 Brustkrebs- und 28000 Darmkrebstote jedes Jahr in Deutschland.
Auf den Einzelnen heruntergerechnet, sehen diese Zahlen allerdings ganz anders
aus. Glücklicherweise ist nämlich das individuelle Risiko nicht
allzu groß, in den nächsten zehn Jahren an einem bestimmten Krebs
zu sterben. So müssen beispielsweise von 1000 60-jährigen Männern
sechs damit rechnen, vor dem 70. Geburtstag an Darmkrebs zu sterben. Und von
1000 60-jährigen Frauen sterben in demselben Zeitraum etwa sieben an
Brustkrebs. Das aber relativiert auch den Effekt der Früherkennung: Wenn
nämlich umgekehrt 994 von 1000 Männern nicht an Darmkrebs oder 993 von 1000 Frauen nicht an Brustkrebs sterben,
können sie durch Früherkennung auch nicht gerettet werden. Der potenzielle
Nutzen der regelmäßigen Untersuchungen verringert sich noch weiter,
weil die Tests nicht wirklich 100 Prozent aller Krebsfälle aufspüren.
Das bedeutet: Unter 1000 Untersuchten wird am Ende das Leben von ein bis drei
Darm- und Brustkrebskranken um eine gewisse Zeit verlängert.
"Immerhin",
sagen die Verfechter der Früherkennung. Was sie aber konsequent beim
Arzttermin und in bunten Heftchen verschweigen: Den anderen, eigentlich gesunden
997 bis 999 Teilnehmern drohen Schäden. So gibt es immer wieder Tumoren,
die so langsam wachsen, dass die Betroffenen in ihrer Lebenszeit nie unter
dem Krebs leiden werden Ð sie sterben schlicht an etwas anderem. Auch diese
"harmlosen" Wucherungen werden durch Früherkennung entdeckt.
Und weil €rzte einem Krebs häufig nicht ansehen können, wie gefährlich
er ist, wird er kurzerhand operiert, bestrahlt und/oder chemotherapiert. Die
Betroffenen und ihre Familien müssen fortan mit einer Angst vor dem Rückfall
und mit den Folgen der Eingriffe leben, die sie ohne Früherkennung nie
erlitten hätten. Nichtwissen kann auch ein Segen sein.
Die
Kampagnen zur Früherkennung aber rollen. Im vergangenen Herbst haben
die Spitzenverbände der Gesetzlichen Krankenversicherung beschlossen,
ab 2003 allen Frauen zwischen 50 und 70 flächendeckend die Mammografie
anzubieten. Einer von fünf durch die Röntgenuntersuchung entdeckten
Tumoren ist ein in den Milchgängen wachsendes In-situ-Karzinom, das im
Röntgenbild besonders leicht auffällt, weil es oft Kalk ablagert.
Nach den bisherigen Erfahrungen würden viele dieser In-situ-Karzinome
nie zu einem Problem für die betroffenen Frauen. Ist aber ein solcher
Tumor einmal entdeckt, wird er fast immer aggressiv behandelt.
Suzanne
Flechter von der Harvard Medical School und Joanne Elmore von der University
of Washington in Seattle rechnen im Fachblatt New England Journal of Medicine
vor, dass unter 1000 50-jährigen Frauen durch eine zehnjährige
Teilnahme an einer Mammografie-Früherkennung einerseits vier Frauen gerettet
werden, aber auf der anderen Seite bei sieben Frauen ein In-situ-Karzinom
entdeckt wird. "Ob diese Funde Leben retten oder nur die Zahl der Frauen
mit einer Brustkrebsdiagnose erhöhen, ist nicht klar", schreiben
die beiden.
Das
Problem der Überdiagnosen droht auch bei der derzeit laufenden Kampagne
zur Früherkennung des Prostatakarzinoms. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis
durchgesetzt, dass das bisher von den Kassen bezahlte Abtasten der Vorsteherdrüse
viel zu ungenau ist. Jetzt fordern Urologen-Verbände und sogar der Bundesrat,
dass die Kassen auch die Kosten für den Bluttest übernehmen, der
nach dem Krebsmarker prostataspezifisches Antigen (PSA) fahndet. Ist der Wert
erhöht, nimmt der Arzt eine Gewebeprobe, um den Verdacht abzuklären.
Bestätigt sich der Verdacht, wird in der Regel die Prostata samt dem
Krebsherd herausgeschnitten. Hunderttausende Männer lassen in Deutschland
ihren PSA-Wert checken. Die entscheidende Frage, ob die Jagd nach erhöhten
PSA-Werten die Sterblichkeit überhaupt senken kann, ist indes offen.
Gerade versuchen zwei große Studien in Europa und den USA dies zu klären.
Viele
bedeutungslose Diagnosen
Sind
die €rzte durch erhöhte PSA-Werte alarmiert, bekämpfen sie einen
vielgestaltigen Feind. Die Früherkennung zielt auf besonders aggressive
Formen des Prostatakrebses, die vorwiegend relativ junge Männer töten.
Doch wesentlich häufiger sind langsam wachsende Varianten, die vermutlich
jeder dritte Mann ab 50 und jeder zweite ab 80 in seiner Vorsteherdrüse
trägt. Diese Alterskarzinome machen sich aber entweder nie bemerkbar
oder so spät, dass die Männer nicht an ihrem Krebs sterben, sondern
mit ihm. Viele Experten mahnen deshalb zur Zurückhaltung mit dem PSA-Test,
solange nicht bewiesen ist, dass er vor allem die gefährlichen Tumoren
findet. Eine Lawine von Prostata-Operationen drohe, die den Betroffenen nicht
nur nicht nützten, sondern sogar recht viele inkontinent und impotent
zurückließen.
Mit
immer ausgeklügelteren Verfahren steigt die Chance, ungewollt in den
Sog der Medizin zu geraten. Beim Gebärmutterhalskrebs suchen die €rzte
gezielt nach noch gutartigen Gewebeveränderungen, die bösartig werden
können. Aber viele bleiben gutartig. Auch die Standardmethode, der Pap-Abstrich,
ist umstritten. Vor wenigen Wochen machten Mediziner im British Medical
Journal folgende Rechnung auf: Um eine einzige Frau vor dem Tod durch
einen Gebärmutterhalskrebs zu bewahren, müssen 1000 Frauen 35 Jahre
lang zur Früherkennung gehen. Von diesen Frauen werden 150 ein besorgniserregendes
Testresultat bescheinigt bekommen, von denen mehr als 50 wegen ihres Tumors
behandelt werden Ð mit allen Risiken und Nebenwirkungen einer Krebstherapie.
Und
die Pap-Suche soll jetzt sogar noch ausgedehnt werden. In fast jedem Gebärmutterhalstumor
finden sich bestimmte Warzenviren, die humanen Papillomviren (HPV). Gentests
erkennen diese Viren und können, so die Argumentation der Testpropagandisten,
bei der Beurteilung helfen, ob eine Frau besonders gefährdet ist. Der
Haken an der Sache: Fast jede Frau wird irgendwann in ihrem Leben mit den
sexuell übertragbaren Viren infiziert sein Ð vorübergehend und ohne
etwas davon zu merken. Wenn man nach den Viren sucht, wird man also mit Sicherheit
viele infizierte Frauen finden. Doch für die große Mehrzahl ist
der Fund völlig ohne Bedeutung.
Die
Früherkennung laboriert nicht nur an †berdiagnosen. Ein verschwiegenes
Problem ist, dass einige Tumoren bereits unheilbar sind, lange bevor sie entdeckt
werden können. Wenn solch ein Krebs schließlich bei der Vorsorge
auffällt, ist das Ergebnis nur eine Vorverlegung der Diagnose. Ein Beispiel:
Zwei Frauen sterben mit 57 Jahren an ihrem Brustkrebs Ð die eine hatte die
Prognose erst mit 53 erfahren, die andere schon mit 50. Die Früherkennung
verlängerte nicht das Leben, sondern das Leiden. Auch der umgekehrte
Fall kommt vor. Die meis- ten Tests übersehen ein Zehntel bis manchmal
die Hälfte der Tumoren, sodass es immer wieder so genannte falsch-negative
Diagnosen gibt. Die Betroffenen gehen beruhigt nach Hause und nehmen Warnzeichen
vielleicht nicht ernst genug.
Man
muss sich darüber klar sein, dass sich der Tausch der Risiken in dem
Moment vollzieht, in dem der Arzt eine Blutprobe abnimmt, um einen PSA-Wert
zu bestimmen, oder die Helferin die Brust mit dem Röntgengerät flach
drückt. Wenn die Untersuchung einmal anläuft, gibt es meist kein
Zurück mehr. Das ist der Augenblick, wo aus der abstrakten Statistik
Einzelschicksale werden, deren Verlauf niemand vorhersagen kann. Die Bilanz
ist so heikel, dass jeder selbst entscheiden sollte, was er bevorzugt. Kennzeichnend
ist aber, dass den Teilnehmern bislang die Möglichkeit der Abwägung
verweigert wurde. Kampagnen zur Früherkennung haben nur das Ziel, die
Teilnehmerquote zu steigern.
Die
unsichere Aussicht der Früherkennung wird sich erst verbessern, wenn
neue Methoden eine zuverlässigere Prognose geben können: über
die Erkrankung, ihren Verlauf und das Todesrisiko. Das bedeutet nicht, dass
sie derzeit sinnlos ist, wohl aber, dass sie von €rzten, Kassen und Patienten
gut abgewogen werden muss. Aus populistischen Gründen auf den Präventionszug
aufzuspringen ist verantwortungslos. Zudem wird es höchste Zeit, dass
Mediziner ihre Neigung zur Bevormundung ablegen. So gesteht die Patientencharta,
ein kürzlich vom Bundesjustizministerium herausgegebener juristischer
Stand der Dinge, dem Patienten weit gehende Rechte zu. "Alle medizinischen
Maßnahmen setzen eine wirksame Einwilligung des Patienten voraus",
heißt es da. Der Patient sei rechtzeitig und ohne Druck auf die Konsequenzen
einer Maßnahme hinzuweisen.
Diese
Aufklärung Ð bei einer bevorstehenden Operation oder Impfung Normalität
Ð wird beim Abtasten der Prostata oder dem Pap-Abstrich ignoriert, obwohl
die Konsequenzen ebenso folgenschwer sein können. So sieht es die Krebsgesellschaft
Nordrhein-Westfalen als ihre Aufgabe an, "die Bevölkerung über
die Notwendigkeit einer frühzeitigen Erkennung der Krebskrankheit zu
informieren" Ð wohlgemerkt nicht über die Früherkennung an
sich, sondern über deren "Notwendigkeit". Der Patient soll
keine Entscheidung treffen, er soll ein Einsehen haben. Mögliche Schäden
werden folgerichtig bei dieser Art von "Information" ausgeblendet.
Weil
die Bilanz der Früherkennung so heikel ist, darf es keine Pflicht zur
Früherkennung geben, wie es manche bereits fordern. Es kommt vielmehr
darauf an, Patienten ehrlich über das Tauschgeschäft aufzuklären,
das Früherkennung bedeutet. Je nach individueller Bewertung wird sich
der eine für, der andere gegen Früherkennung entscheiden. Vielleicht
gibt es krebskranke Verwandte, die die persönliche Einschätzung
verändern. Andere halten die Sorge vor Krebs aus und konzentrieren sich
auf Dinge, die ihnen wichtiger erscheinen. Ausschlaggebend ist: Egal ob man
sich für oder gegen Krebsfrüherkennung entscheidet, beides kann
sehr vernünftig sein.
Zum
selben Thema haben Christian Weymayr und Klaus Koch das Buch "Mythos
Krebsvorsorge" (Eichborn Verlag, Frankfurt am Main) veröffentlicht
(c) DIE ZEIT 18.06.2003 Nr.26
Die
ZEIT - Weymayr
Mit
immer ausgeklügelteren Verfahren steigt die Chance, ungewollt in den
Sog der Medizin zu geraten. Beim Gebärmutterhalskrebs suchen die €rzte
gezielt nach noch gutartigen Gewebeveränderungen, die bösartig werden
können. Aber viele bleiben gutartig. Auch die Standardmethode, der Pap-Abstrich,
ist umstritten. Vor wenigen Wochen machten Mediziner im British Medical
Journal folgende Rechnung auf: Um eine einzige Frau vor dem Tod durch
einen Gebärmutterhalskrebs zu bewahren, müssen 1000 Frauen 35 Jahre
lang zur Früherkennung gehen. Von diesen Frauen werden 150 ein besorgniserregendes
Testresultat bescheinigt bekommen, von denen mehr als 50 wegen ihres Tumors
behandelt werden _ mit allen Risiken und Nebenwirkungen einer Krebstherapie.
Und
die Pap-Suche soll jetzt sogar noch ausgedehnt werden. In fast jedem Gebärmutterhalstumor
finden sich bestimmte Warzenviren, die humanen Papillomviren (HPV). Gentests
erkennen diese Viren und können, so die Argumentation der Testpropagandisten,
bei der Beurteilung helfen, ob eine Frau besonders gefährdet ist.
Der
Haken an der Sache: Fast jede Frau wird irgendwann in ihrem Leben mit den
sexuell übertragbaren Viren infiziert sein _ vorübergehend und ohne
etwas davon zu merken. Wenn man nach den Viren sucht, wird man also mit Sicherheit
viele infizierte Frauen finden. Doch für die große Mehrzahl ist
der Fund völlig ohne Bedeutung.
Die
Früherkennung laboriert nicht nur an †berdiagnosen. Ein verschwiegenes
Problem ist, dass einige
Tumoren
bereits unheilbar sind, lange bevor sie entdeckt werden können. Wenn
solch ein Krebs schließlich bei der Vorsorge auffällt, ist das
Ergebnis nur eine Vorverlegung der Diagnose.
Ein
Beispiel: Zwei Frauen sterben mit 57 Jahren an ihrem Brustkrebs _ die eine
hatte die Prognose erst mit 53 erfahren, die andere schon mit 50. Die Früherkennung
verlängerte nicht das Leben, sondern das Leiden. Auch der umgekehrte
Fall kommt vor. Die meis- ten Tests übersehen ein Zehntel bis manchmal
die Hälfte der Tumoren, sodass es immer wieder so genannte falsch-negative
Diagnosen gibt. Die Betroffenen gehen beruhigt nach Hause und nehmen Warnzeichen
vielleicht nicht ernst genug.
Man
muss sich darüber klar sein, dass sich der Tausch der Risiken in dem
Moment vollzieht, in dem der Arzt eine Blutprobe abnimmt, um einen PSA-Wert
zu bestimmen, oder die Helferin die Brust mit dem
Röntgengerät
flach drückt. Wenn die Untersuchung einmal anläuft, gibt es meist
kein Zurück mehr. Das ist der Augenblick, wo aus der abstrakten Statistik
Einzelschicksale werden, deren Verlauf niemand vorhersagen kann. Die Bilanz
ist so heikel, dass jeder selbst entscheiden sollte, was er bevorzugt. Kennzeichnend
ist aber, dass den Teilnehmern bislang die Möglichkeit der Abwägung
verweigert wurde. Kampagnen zur Früherkennung haben nur das Ziel, die
Teilnehmerquote zu steigern.
Die
unsichere Aussicht der Früherkennung wird sich erst verbessern, wenn
neue Methoden eine
zuverlässigere
Prognose geben können: über die Erkrankung, ihren Verlauf und das
Todesrisiko. Das bedeutet nicht, dass sie derzeit sinnlos ist, wohl aber,
dass sie von €rzten, Kassen und Patienten gut abgewogen werden muss. Aus populistischen
Gründen auf den Präventionszug aufzuspringen ist verantwortungslos.
Zudem wird es höchste Zeit, dass Mediziner ihre Neigung zur Bevormundung
ablegen.
So
gesteht die Patientencharta, ein kürzlich vom Bundesjustizministerium
herausgegebener juristischer Stand der Dinge, dem Patienten weit gehende Rechte
zu. _Alle medizinischen Maßnahmen setzen eine wirksame Einwilligung
des Patienten voraus_, heißt es da. Der Patient sei rechtzeitig und
ohne Druck auf die Konsequenzen einer Maßnahme hinzuweisen.
Diese
Aufklärung _ bei einer bevorstehenden Operation oder Impfung Normalität
_ wird beim Abtasten der Prostata oder dem Pap-Abstrich ignoriert, obwohl
die Konsequenzen ebenso folgenschwer sein können. So sieht es die Krebsgesellschaft
Nordrhein-Westfalen als ihre Aufgabe an, _die Bevölkerung über die
Notwendigkeit einer frühzeitigen Erkennung der Krebskrankheit zu informieren_
_ wohlgemerkt nicht über die Früherkennung an sich, sondern über
deren _Notwendigkeit_. Der Patient soll keine Entscheidung treffen, er soll
ein Einsehen haben. Mögliche Schäden werden folgerichtig bei dieser
Art von _Information_ ausgeblendet.
DIE
ZEIT - Vom Segen des Nichtwissens
Im
Dschungel der Früherkennung verliert der Mensch leicht die Orientierung.
Ein kleiner Leitfaden
Brustkrebs
Der
größte Risikofaktor für den Brustkrebs ist Ð wie für
viele Krebsarten Ð das Alter. Rund 430 Frauen unter 40 Jahren sterben jährlich
in Deutschland an Brustkrebs; zehnmal so viele sind es im Alter zwischen 60
und 70 Jahren. Sind Verwandte ersten Grades betroffen, steigt das Risiko.
Nach
einer chinesischen Studie mit 250000 Teilnehmerinnen gibt es keinen Hinweis
darauf, dass durch Selbstabtasten der Brust die Heilungschancen verbessert
werden. Trotzdem mögen sich viele Krebsorganisationen nicht völlig
von der Methode verabschieden. Sie steigere, argumentieren sie, die Aufmerksamkeit
für Veränderungen am eigenen Körper. Auch das Abtasten durch
den Arzt ist umstritten, vor allem, weil es häufig nicht sorgfältig
genug durchgeführt wird. Beide Tasttechniken sind oft Anlass für
weitere Untersuchungen. €rzte entnehmen unter anderem mit einer Nadel Gewebeproben,
welche dann häufig unauffällig sind.
Besser
schneidet Ð zumindest ab einem Alter von 50 Jahren Ð die Mammografie ab. Allerdings
ist auch diese nicht risikofrei: Zwischen 5 und 10 Prozent der untersuchten
Frauen müssen mit einem Fehlalarm rechnen. Außerdem werden beim
Durchleuchten der Brust auch unheilbare Tumoren entdeckt. Die betroffenen
Frauen erfahren den Befund zwar frühzeitig, müssen aber länger
mit der fatalen Diagnose leben.
Prostatakrebs
Erstaunlicherweise
liegt das durchschnittliche Alter der Prostatakrebstoten bei 77,6 Jahren und
damit höher als das allgemeine Sterbealter.
Jeder
Mann ab 45 hat jährlich Anspruch darauf, dass ein Arzt seine Prostata
abtastet. Krebsknoten fühlen sich härter als normales Gewebe an.
Trotzdem werden bei diesem Test extrem viele Tumoren übersehen. Eine
Lebensverlängerung durch die Technik ist nicht nachgewiesen.
Kein
Bestandteil der gesetzlichen Früherkennung ist der PSA-Test. Bei diesem
wird in einer Urinprobe nach einem Krebsmarker, dem prostataspezifischen Antigen
(PSA), gesucht. Ein erhöhtes PSA kann auf frühe Stadien des Prostatakrebses
hinweisen. Es gibt allerdings auch hier noch kein abschließendes Urteil
darüber, ob die frühe Entdeckung von Krebszellen auch die Rate der
Todesfälle senkt. In den USA wurde bereits empfohlen, bei sehr niedrigen
PSA-Werten Kontrollen nur in Fünfjahresabständen durchzuführen.
Darmkrebs
Zur
erfolgreichen Früherkennung bietet der Dickdarmkrebs wohl die günstigsten
Voraussetzungen. Er wächst meist langsam und entwickelt sich über
gutartige Vorstufen, so genannte Polypen, die der Magen-Darm-Spezialist relativ
leicht erkennen kann. Umstritten ist aber, welches die beste Methode dazu
ist.
Ab
50 wird die jährliche Stuhluntersuchung auf Blut empfohlen. Wer diesem
Rat folgt, kann tatsächlich sein Risiko verringern, an Darmkrebs zu sterben.
Allerdings entgehen dem Stuhltest etwa die Hälfte aller Tumoren. Ein
unauffälliges Testergebnis bedeutet also keine Entwarnung. Wurde in der
Verwandtschaft gehäuft Darmkrebs diagnostiziert, ist das Risiko für
eine Entartung von Polypen besonders hoch. Patienten mit dieser Vorgeschichte
profitieren definitiv von regelmäßigen Darmspiegelungen. Die Untersuchung
ist aufwändig und wird aus diesem Grund wahrscheinlich auch in Zukunft
kein Massentest werden.
Gebärmutterhalskrebs
Zwar
treten Gebärmutterhalstumore häufig schon bei jungen Frauen auf.
Doch im Alter ist die Sterblichkeit am höchsten. Seit Beginn der siebziger
Jahre fiel die Rate der Todesfälle für diesen Krebs wieder auf das
Niveau der fünfziger Jahre. Diese Entwicklung wird als Paradebeispiel
für den Nutzen der Früherkennung gefeiert. Das Instrument dafür
war und ist der Schleimhautabstrich mit anschließender Zelluntersuchung,
der so genannte Pap-Test. Ihm entgeht jedoch jede zweite bis dritte Zellveränderung.
Es werden auch Tumorvorstufen entdeckt, die sich unbehandelt von selbst zurückbilden.
Aus diesem Grund sind Fehlalarme sehr häufig.
(c)
DIE ZEIT 18.06.2003 Nr.26