Vorsorge
Vom Segen des Nichtwissens
Bislang
gilt die Früherkennung als die wirksamste Waffe im Kampf gegen den Krebs.
Doch ist sie das wirklich?
Von
Klaus Koch und Christian Weymayr
Für
die Prüderen unter den Amerikanern handelte es sich schlicht um Pornografie.
Und es waren in der Tat ziemlich hübsche Frauen, die da in Großaufnahme demonstrierten,
wie sich eine Frau ihre Brust abtasten sollte. Diese so genannte Selbstuntersuchung
hatte die Amerikanische Krebsgesellschaft Anfang der fünfziger Jahre zur wichtigsten
Waffe gegen den Brustkrebs gekürt. Eine Schwemme von Broschüren, Büchern und
sogar ein Film erklärten der weiblichen Hälfte der Nation, warum es lebenswichtig
sei, dass alle Frauen ab 20 sich einmal pro Monat systematisch die Brüste
nach Knoten abtasteten. Außer bei den Zeitgenossen, die sich an den öffentlichen
Bildern der Nackten stießen, gab es wenig Zweifel am Sinn der Kampagne. Die
Empfehlung wurde zum Allgemeingut und gehörte bald auch in Deutschland zu
den guten Ratschlägen gegen den Krebs.
Doch
mit den monatlichen Fingerübungen geht es jetzt zu Ende. Im Mai hat sich die
Amerikanische Krebsgesellschaft offiziell von ihrer alten Empfehlung der regelmäßigen
Selbstuntersuchung distanziert. Es fehle der Beweis, dass die Technik die
Zahl der Brustkrebstoten verringere.
Die
Abkehr von der Tastuntersuchung symbolisiert einen fundamentalen Wechsel im
Umgang mit der Krebsfrüherkennung. Bislang galt das Prinzip Hoffnung: Jeder,
der eine aussichtsreiche Methode propagierte, den Krebs noch früher aufzuspüren,
konnte sich der Sympathie Ð und Kundschaft Ð sicher sein. Doch langsam dringen
auch die Grenzen der Verfahren ins Bewusstsein. Plötzlich wird offen darüber
diskutiert, dass allzu eifrige Kontrolle sogar mehr schaden als nützen kann.
An der seit 1971 praktizierten Früherkennung von Darm-, Prostata-, Brust-,
Haut- und Gebärmutterhalskrebs lässt sich demonstrieren, dass Nichtstun eine
ernst zu nehmende Alternative ist.
Früherkennung
ist im Kern ein Tauschgeschäft: Man tauscht ein Risiko gegen ein Bündel anderer
Risiken. Von 1000 Teilnehmern können bestenfalls einige wenige erwarten, dass
Früherkennung sie vor einem vorzeitigen Tod durch einen Krebs bewahrt. Keine
Frage, das ist ein sehr starkes Argument für Früherkennung. Doch dieser Gruppe
stehen etwa gleich viele Teilnehmer gegenüber, bei denen Früherkennung die
Gesundheit angreift, die sie eigentlich erhalten soll.
Risiken
werden verschwiegen
Wer
sich auf die Früherkennung einlässt, kommt nicht darum herum, mit Zahlen zu
spielen. Die Drohkulisse, vor der sich die Diskussion um die Früherkennung
abspielt, sind 18000 Brustkrebs- und 28000 Darmkrebstote jedes Jahr in Deutschland.
Auf den Einzelnen heruntergerechnet, sehen diese Zahlen allerdings ganz anders
aus. Glücklicherweise ist nämlich das individuelle Risiko nicht allzu groß,
in den nächsten zehn Jahren an einem bestimmten Krebs zu sterben. So müssen
beispielsweise von 1000 60-jährigen Männern sechs damit rechnen, vor dem 70.
Geburtstag an Darmkrebs zu sterben. Und von 1000 60-jährigen Frauen sterben
in demselben Zeitraum etwa sieben an Brustkrebs. Das aber relativiert auch
den Effekt der Früherkennung: Wenn nämlich umgekehrt 994 von 1000 Männern
nicht an Darmkrebs oder 993 von 1000 Frauen nicht an Brustkrebs sterben,
können sie durch Früherkennung auch nicht gerettet werden. Der potenzielle
Nutzen der regelmäßigen Untersuchungen verringert sich noch weiter, weil die
Tests nicht wirklich 100 Prozent aller Krebsfälle aufspüren. Das bedeutet:
Unter 1000 Untersuchten wird am Ende das Leben von ein bis drei Darm- und
Brustkrebskranken um eine gewisse Zeit verlängert.
"Immerhin",
sagen die Verfechter der Früherkennung. Was sie aber konsequent beim Arzttermin
und in bunten Heftchen verschweigen: Den anderen, eigentlich gesunden 997
bis 999 Teilnehmern drohen Schäden. So gibt es immer wieder Tumoren, die so
langsam wachsen, dass die Betroffenen in ihrer Lebenszeit nie unter dem Krebs
leiden werden Ð sie sterben schlicht an etwas anderem. Auch diese "harmlosen"
Wucherungen werden durch Früherkennung entdeckt. Und weil €rzte einem Krebs
häufig nicht ansehen können, wie gefährlich er ist, wird er kurzerhand operiert,
bestrahlt und/oder chemotherapiert. Die Betroffenen und ihre Familien müssen
fortan mit einer Angst vor dem Rückfall und mit den Folgen der Eingriffe leben,
die sie ohne Früherkennung nie erlitten hätten. Nichtwissen kann auch ein
Segen sein.
Die
Kampagnen zur Früherkennung aber rollen. Im vergangenen Herbst haben die Spitzenverbände
der Gesetzlichen Krankenversicherung beschlossen, ab 2003 allen Frauen zwischen
50 und 70 flächendeckend die Mammografie anzubieten. Einer von fünf durch
die Röntgenuntersuchung entdeckten Tumoren ist ein in den Milchgängen wachsendes
In-situ-Karzinom, das im Röntgenbild besonders leicht auffällt, weil es oft
Kalk ablagert. Nach den bisherigen Erfahrungen würden viele dieser In-situ-Karzinome
nie zu einem Problem für die betroffenen Frauen. Ist aber ein solcher Tumor
einmal entdeckt, wird er fast immer aggressiv behandelt.
Suzanne
Flechter von der Harvard Medical School und Joanne Elmore von der University
of Washington in Seattle rechnen im Fachblatt New England Journal of Medicine
vor, dass unter 1000 50-jährigen Frauen durch eine zehnjährige Teilnahme
an einer Mammografie-Früherkennung einerseits vier Frauen gerettet werden,
aber auf der anderen Seite bei sieben Frauen ein In-situ-Karzinom entdeckt
wird. "Ob diese Funde Leben retten oder nur die Zahl der Frauen mit einer
Brustkrebsdiagnose erhöhen, ist nicht klar", schreiben die beiden.
Das
Problem der Überdiagnosen droht auch bei der derzeit laufenden Kampagne
zur Früherkennung des Prostatakarzinoms. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis
durchgesetzt, dass das bisher von den Kassen bezahlte Abtasten der Vorsteherdrüse
viel zu ungenau ist. Jetzt fordern Urologen-Verbände und sogar der Bundesrat,
dass die Kassen auch die Kosten für den Bluttest übernehmen, der
nach dem Krebsmarker prostataspezifisches Antigen (PSA) fahndet. Ist der Wert
erhöht, nimmt der Arzt eine Gewebeprobe, um den Verdacht abzuklären.
Bestätigt sich der Verdacht, wird in der Regel die Prostata samt dem
Krebsherd herausgeschnitten. Hunderttausende Männer lassen in Deutschland
ihren PSA-Wert checken. Die entscheidende Frage, ob die Jagd nach erhöhten
PSA-Werten die Sterblichkeit überhaupt senken kann, ist indes offen.
Gerade versuchen zwei große Studien in Europa und den USA dies zu klären.
Viele
bedeutungslose Diagnosen
Sind
die €rzte durch erhöhte PSA-Werte alarmiert, bekämpfen sie einen vielgestaltigen
Feind. Die Früherkennung zielt auf besonders aggressive Formen des Prostatakrebses,
die vorwiegend relativ junge Männer töten. Doch wesentlich häufiger sind langsam
wachsende Varianten, die vermutlich jeder dritte Mann ab 50 und jeder zweite
ab 80 in seiner Vorsteherdrüse trägt. Diese Alterskarzinome machen sich aber
entweder nie bemerkbar oder so spät, dass die Männer nicht an ihrem Krebs
sterben, sondern mit ihm. Viele Experten mahnen deshalb zur Zurückhaltung
mit dem PSA-Test, solange nicht bewiesen ist, dass er vor allem die gefährlichen
Tumoren findet. Eine Lawine von Prostata-Operationen drohe, die den Betroffenen
nicht nur nicht nützten, sondern sogar recht viele inkontinent und impotent
zurückließen.
Mit
immer ausgeklügelteren Verfahren steigt die Chance, ungewollt in den Sog der
Medizin zu geraten. Beim Gebärmutterhalskrebs suchen die €rzte gezielt nach
noch gutartigen Gewebeveränderungen, die bösartig werden können. Aber viele
bleiben gutartig. Auch die Standardmethode, der Pap-Abstrich, ist umstritten.
Vor wenigen Wochen machten Mediziner im British Medical Journal folgende
Rechnung auf: Um eine einzige Frau vor dem Tod durch einen Gebärmutterhalskrebs
zu bewahren, müssen 1000 Frauen 35 Jahre lang zur Früherkennung gehen. Von
diesen Frauen werden 150 ein besorgniserregendes Testresultat bescheinigt
bekommen, von denen mehr als 50 wegen ihres Tumors behandelt werden Ð mit
allen Risiken und Nebenwirkungen einer Krebstherapie.
Und
die Pap-Suche soll jetzt sogar noch ausgedehnt werden. In fast jedem Gebärmutterhalstumor
finden sich bestimmte Warzenviren, die humanen Papillomviren (HPV). Gentests
erkennen diese Viren und können, so die Argumentation der Testpropagandisten,
bei der Beurteilung helfen, ob eine Frau besonders gefährdet ist. Der Haken
an der Sache: Fast jede Frau wird irgendwann in ihrem Leben mit den sexuell
übertragbaren Viren infiziert sein Ð vorübergehend und ohne etwas davon zu
merken. Wenn man nach den Viren sucht, wird man also mit Sicherheit viele
infizierte Frauen finden. Doch für die große Mehrzahl ist der Fund völlig
ohne Bedeutung.
Die
Früherkennung laboriert nicht nur an †berdiagnosen. Ein verschwiegenes Problem
ist, dass einige Tumoren bereits unheilbar sind, lange bevor sie entdeckt
werden können. Wenn solch ein Krebs schließlich bei der Vorsorge auffällt,
ist das Ergebnis nur eine Vorverlegung der Diagnose. Ein Beispiel: Zwei Frauen
sterben mit 57 Jahren an ihrem Brustkrebs Ð die eine hatte die Prognose erst
mit 53 erfahren, die andere schon mit 50. Die Früherkennung verlängerte nicht
das Leben, sondern das Leiden. Auch der umgekehrte Fall kommt vor. Die meis-
ten Tests übersehen ein Zehntel bis manchmal die Hälfte der Tumoren, sodass
es immer wieder so genannte falsch-negative Diagnosen gibt. Die Betroffenen
gehen beruhigt nach Hause und nehmen Warnzeichen vielleicht nicht ernst genug.
Man
muss sich darüber klar sein, dass sich der Tausch der Risiken in dem Moment
vollzieht, in dem der Arzt eine Blutprobe abnimmt, um einen PSA-Wert zu bestimmen,
oder die Helferin die Brust mit dem Röntgengerät flach drückt. Wenn die Untersuchung
einmal anläuft, gibt es meist kein Zurück mehr. Das ist der Augenblick, wo
aus der abstrakten Statistik Einzelschicksale werden, deren Verlauf niemand
vorhersagen kann. Die Bilanz ist so heikel, dass jeder selbst entscheiden
sollte, was er bevorzugt. Kennzeichnend ist aber, dass den Teilnehmern bislang
die Möglichkeit der Abwägung verweigert wurde. Kampagnen zur Früherkennung
haben nur das Ziel, die Teilnehmerquote zu steigern.
Die
unsichere Aussicht der Früherkennung wird sich erst verbessern, wenn neue
Methoden eine zuverlässigere Prognose geben können: über die Erkrankung, ihren
Verlauf und das Todesrisiko. Das bedeutet nicht, dass sie derzeit sinnlos
ist, wohl aber, dass sie von €rzten, Kassen und Patienten gut abgewogen werden
muss. Aus populistischen Gründen auf den Präventionszug aufzuspringen ist
verantwortungslos. Zudem wird es höchste Zeit, dass Mediziner ihre Neigung
zur Bevormundung ablegen. So gesteht die Patientencharta, ein kürzlich
vom Bundesjustizministerium herausgegebener juristischer Stand der Dinge,
dem Patienten weit gehende Rechte zu. "Alle medizinischen Maßnahmen setzen
eine wirksame Einwilligung des Patienten voraus", heißt es da. Der Patient
sei rechtzeitig und ohne Druck auf die Konsequenzen einer Maßnahme hinzuweisen.
Diese
Aufklärung Ð bei einer bevorstehenden Operation oder Impfung Normalität Ð
wird beim Abtasten der Prostata oder dem Pap-Abstrich ignoriert, obwohl die
Konsequenzen ebenso folgenschwer sein können. So sieht es die Krebsgesellschaft
Nordrhein-Westfalen als ihre Aufgabe an, "die Bevölkerung über die Notwendigkeit
einer frühzeitigen Erkennung der Krebskrankheit zu informieren" Ð wohlgemerkt
nicht über die Früherkennung an sich, sondern über deren "Notwendigkeit".
Der Patient soll keine Entscheidung treffen, er soll ein Einsehen haben. Mögliche
Schäden werden folgerichtig bei dieser Art von "Information" ausgeblendet.
Weil
die Bilanz der Früherkennung so heikel ist, darf es keine Pflicht zur Früherkennung
geben, wie es manche bereits fordern. Es kommt vielmehr darauf an, Patienten
ehrlich über das Tauschgeschäft aufzuklären, das Früherkennung bedeutet. Je
nach individueller Bewertung wird sich der eine für, der andere gegen Früherkennung
entscheiden. Vielleicht gibt es krebskranke Verwandte, die die persönliche
Einschätzung verändern. Andere halten die Sorge vor Krebs aus und konzentrieren
sich auf Dinge, die ihnen wichtiger erscheinen. Ausschlaggebend ist: Egal
ob man sich für oder gegen Krebsfrüherkennung entscheidet, beides kann sehr
vernünftig sein.
Zum
selben Thema haben Christian Weymayr und Klaus Koch das Buch "Mythos Krebsvorsorge"
(Eichborn Verlag, Frankfurt am Main) veröffentlicht
(c) DIE ZEIT 18.06.2003 Nr.26
Die
ZEIT - Weymayr
Mit
immer ausgeklügelteren Verfahren steigt die Chance, ungewollt in den Sog der
Medizin zu geraten. Beim Gebärmutterhalskrebs suchen die €rzte gezielt nach
noch gutartigen Gewebeveränderungen, die bösartig werden können. Aber viele
bleiben gutartig. Auch die Standardmethode, der Pap-Abstrich, ist umstritten.
Vor wenigen Wochen machten Mediziner im British Medical Journal folgende
Rechnung auf: Um eine einzige Frau vor dem Tod durch einen Gebärmutterhalskrebs
zu bewahren, müssen 1000 Frauen 35 Jahre lang zur Früherkennung gehen. Von
diesen Frauen werden 150 ein besorgniserregendes Testresultat bescheinigt
bekommen, von denen mehr als 50 wegen ihres Tumors behandelt werden _ mit
allen Risiken und Nebenwirkungen einer Krebstherapie.
Und
die Pap-Suche soll jetzt sogar noch ausgedehnt werden. In fast jedem Gebärmutterhalstumor
finden sich bestimmte Warzenviren, die humanen Papillomviren (HPV). Gentests
erkennen diese Viren und können, so die Argumentation der Testpropagandisten,
bei der Beurteilung helfen, ob eine Frau besonders gefährdet ist.
Der
Haken an der Sache: Fast jede Frau wird irgendwann in ihrem Leben mit den
sexuell übertragbaren Viren infiziert sein _ vorübergehend und ohne etwas
davon zu merken. Wenn man nach den Viren sucht, wird man also mit Sicherheit
viele infizierte Frauen finden. Doch für die große Mehrzahl ist der Fund völlig
ohne Bedeutung.
Die
Früherkennung laboriert nicht nur an †berdiagnosen. Ein verschwiegenes Problem
ist, dass einige
Tumoren
bereits unheilbar sind, lange bevor sie entdeckt werden können. Wenn solch
ein Krebs schließlich bei der Vorsorge auffällt, ist das Ergebnis nur eine
Vorverlegung der Diagnose.
Ein
Beispiel: Zwei Frauen sterben mit 57 Jahren an ihrem Brustkrebs _ die eine
hatte die Prognose erst mit 53 erfahren, die andere schon mit 50. Die Früherkennung
verlängerte nicht das Leben, sondern das Leiden. Auch der umgekehrte Fall
kommt vor. Die meis- ten Tests übersehen ein Zehntel bis manchmal die Hälfte
der Tumoren, sodass es immer wieder so genannte falsch-negative Diagnosen
gibt. Die Betroffenen gehen beruhigt nach Hause und nehmen Warnzeichen vielleicht
nicht ernst genug.
Man
muss sich darüber klar sein, dass sich der Tausch der Risiken in dem Moment
vollzieht, in dem der Arzt eine Blutprobe abnimmt, um einen PSA-Wert zu bestimmen,
oder die Helferin die Brust mit dem
Röntgengerät
flach drückt. Wenn die Untersuchung einmal anläuft, gibt es meist kein Zurück
mehr. Das ist der Augenblick, wo aus der abstrakten Statistik Einzelschicksale
werden, deren Verlauf niemand vorhersagen kann. Die Bilanz ist so heikel,
dass jeder selbst entscheiden sollte, was er bevorzugt. Kennzeichnend ist
aber, dass den Teilnehmern bislang die Möglichkeit der Abwägung verweigert
wurde. Kampagnen zur Früherkennung haben nur das Ziel, die Teilnehmerquote
zu steigern.
Die
unsichere Aussicht der Früherkennung wird sich erst verbessern, wenn neue
Methoden eine
zuverlässigere
Prognose geben können: über die Erkrankung, ihren Verlauf und das Todesrisiko.
Das bedeutet nicht, dass sie derzeit sinnlos ist, wohl aber, dass sie von
€rzten, Kassen und Patienten gut abgewogen werden muss. Aus populistischen
Gründen auf den Präventionszug aufzuspringen ist verantwortungslos. Zudem
wird es höchste Zeit, dass Mediziner ihre Neigung zur Bevormundung ablegen.
So
gesteht die Patientencharta, ein kürzlich vom Bundesjustizministerium
herausgegebener juristischer Stand der Dinge, dem Patienten weit gehende Rechte
zu. _Alle medizinischen Maßnahmen setzen eine wirksame Einwilligung des Patienten
voraus_, heißt es da. Der Patient sei rechtzeitig und ohne Druck auf die Konsequenzen
einer Maßnahme hinzuweisen.
Diese
Aufklärung _ bei einer bevorstehenden Operation oder Impfung Normalität _
wird beim Abtasten der Prostata oder dem Pap-Abstrich ignoriert, obwohl die
Konsequenzen ebenso folgenschwer sein können. So sieht es die Krebsgesellschaft
Nordrhein-Westfalen als ihre Aufgabe an, _die Bevölkerung über die Notwendigkeit
einer frühzeitigen Erkennung der Krebskrankheit zu informieren_ _ wohlgemerkt
nicht über die Früherkennung an sich, sondern über deren _Notwendigkeit_.
Der Patient soll keine Entscheidung treffen, er soll ein Einsehen haben. Mögliche
Schäden werden folgerichtig bei dieser Art von _Information_ ausgeblendet.
DIE
ZEIT - Vom Segen des Nichtwissens
Im
Dschungel der Früherkennung verliert der Mensch leicht die Orientierung. Ein
kleiner Leitfaden
Brustkrebs
Der
größte Risikofaktor für den Brustkrebs ist Ð wie für viele Krebsarten Ð das
Alter. Rund 430 Frauen unter 40 Jahren sterben jährlich in Deutschland an
Brustkrebs; zehnmal so viele sind es im Alter zwischen 60 und 70 Jahren. Sind
Verwandte ersten Grades betroffen, steigt das Risiko.
Nach
einer chinesischen Studie mit 250000 Teilnehmerinnen gibt es keinen Hinweis
darauf, dass durch Selbstabtasten der Brust die Heilungschancen verbessert
werden. Trotzdem mögen sich viele Krebsorganisationen nicht völlig von der
Methode verabschieden. Sie steigere, argumentieren sie, die Aufmerksamkeit
für Veränderungen am eigenen Körper. Auch das Abtasten durch den Arzt ist
umstritten, vor allem, weil es häufig nicht sorgfältig genug durchgeführt
wird. Beide Tasttechniken sind oft Anlass für weitere Untersuchungen. €rzte
entnehmen unter anderem mit einer Nadel Gewebeproben, welche dann häufig unauffällig
sind.
Besser
schneidet Ð zumindest ab einem Alter von 50 Jahren Ð die Mammografie ab. Allerdings
ist auch diese nicht risikofrei: Zwischen 5 und 10 Prozent der untersuchten
Frauen müssen mit einem Fehlalarm rechnen. Außerdem werden beim Durchleuchten
der Brust auch unheilbare Tumoren entdeckt. Die betroffenen Frauen erfahren
den Befund zwar frühzeitig, müssen aber länger mit der fatalen Diagnose leben.
Prostatakrebs
Erstaunlicherweise
liegt das durchschnittliche Alter der Prostatakrebstoten bei 77,6 Jahren und
damit höher als das allgemeine Sterbealter.
Jeder
Mann ab 45 hat jährlich Anspruch darauf, dass ein Arzt seine Prostata abtastet.
Krebsknoten fühlen sich härter als normales Gewebe an. Trotzdem werden bei
diesem Test extrem viele Tumoren übersehen. Eine Lebensverlängerung durch
die Technik ist nicht nachgewiesen.
Kein
Bestandteil der gesetzlichen Früherkennung ist der PSA-Test. Bei diesem wird
in einer Urinprobe nach einem Krebsmarker, dem prostataspezifischen Antigen
(PSA), gesucht. Ein erhöhtes PSA kann auf frühe Stadien des Prostatakrebses
hinweisen. Es gibt allerdings auch hier noch kein abschließendes Urteil darüber,
ob die frühe Entdeckung von Krebszellen auch die Rate der Todesfälle senkt.
In den USA wurde bereits empfohlen, bei sehr niedrigen PSA-Werten Kontrollen
nur in Fünfjahresabständen durchzuführen.
Darmkrebs
Zur
erfolgreichen Früherkennung bietet der Dickdarmkrebs wohl die günstigsten
Voraussetzungen. Er wächst meist langsam und entwickelt sich über gutartige
Vorstufen, so genannte Polypen, die der Magen-Darm-Spezialist relativ leicht
erkennen kann. Umstritten ist aber, welches die beste Methode dazu ist.
Ab
50 wird die jährliche Stuhluntersuchung auf Blut empfohlen. Wer diesem Rat
folgt, kann tatsächlich sein Risiko verringern, an Darmkrebs zu sterben. Allerdings
entgehen dem Stuhltest etwa die Hälfte aller Tumoren. Ein unauffälliges Testergebnis
bedeutet also keine Entwarnung. Wurde in der Verwandtschaft gehäuft Darmkrebs
diagnostiziert, ist das Risiko für eine Entartung von Polypen besonders hoch.
Patienten mit dieser Vorgeschichte profitieren definitiv von regelmäßigen
Darmspiegelungen. Die Untersuchung ist aufwändig und wird aus diesem Grund
wahrscheinlich auch in Zukunft kein Massentest werden.
Gebärmutterhalskrebs
Zwar
treten Gebärmutterhalstumore häufig schon bei jungen Frauen auf. Doch im Alter
ist die Sterblichkeit am höchsten. Seit Beginn der siebziger Jahre fiel die
Rate der Todesfälle für diesen Krebs wieder auf das Niveau der fünfziger Jahre.
Diese Entwicklung wird als Paradebeispiel für den Nutzen der Früherkennung
gefeiert. Das Instrument dafür war und ist der Schleimhautabstrich mit anschließender
Zelluntersuchung, der so genannte Pap-Test. Ihm entgeht jedoch jede zweite
bis dritte Zellveränderung. Es werden auch Tumorvorstufen entdeckt, die sich
unbehandelt von selbst zurückbilden. Aus diesem Grund sind Fehlalarme sehr
häufig.
(c)
DIE ZEIT 18.06.2003 Nr.26